Indiens „Look West“-Politik im Nahen Osten unter Modi

Indiens Interessen und Fähigkeiten reichen weit über den Subkontinent hinaus. Dieser Aufsatz ist Teil einer Serie, die sich mit den geopolitischen Dimensionen, den wirtschaftlichen Beziehungen, den transnationalen Netzwerken und anderen Aspekten der Verbindungen Indiens mit dem Nahen Osten (Westasien) befasst – einer Region, die für Indiens Wirtschaft und seine Zukunft eine entscheidende Rolle spielt. Mehr …

Im Mai gewann Narendra Modis Bhaaratiya Janata Party (BJP) die indischen Wahlen und wurde zum zweiten Mal in die Regierung gewählt. Welche Auswirkungen hat dieser Sieg auf die indische Außenpolitik, insbesondere im Nahen Osten? Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, Indiens Strategie in der Region und seine wichtigsten Beziehungen zu überprüfen. Dabei wird deutlich, dass Modi auf den unter früheren Regierungen begonnenen Bemühungen aufbaut und diese intensiviert hat. Es ist auch klar, dass die Modi-Regierung bei ihrer Politik von der aktuellen Lage der internationalen Politik im Nahen Osten profitiert hat.

Dass Modi inzwischen als aktiverer Akteur im Nahen Osten angesehen wird, steht im Gegensatz zu den Erwartungen nach seiner Wahl im Jahr 2014. Damals war man davon ausgegangen, dass er sich eher auf innenpolitische Angelegenheiten als auf die Außenpolitik konzentrieren würde. Man ging auch davon aus, dass seine Außenpolitik, sofern er eine hat, an die der früheren BJP und der eher säkularen Kongresspartei anknüpfen würde. Sie würde sich auf die Annäherung an die Vereinigten Staaten konzentrieren und gleichzeitig im Rahmen ihrer „Look East“-Politik Auslandsinvestitionen aus Ländern wie China, Japan, Singapur und Australien anstreben.

Indien und der Nahe Osten vor Modi

Indiens Look East-Politik begann nach dem Ende des Kalten Krieges. Mit dem Ende der Sowjetunion wurde diese zum wichtigsten globalen Partner Indiens und zwang Delhi zur Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, die nun die dominierende Macht waren. Indiens staatlich gelenktes Entwicklungsmodell wurde auch den Anforderungen des Marktes und der Globalisierung ausgesetzt, die jetzt die wichtigste Form der wirtschaftlichen Organisation sind.

Indiens Notwendigkeit, sich wirtschaftlich zu entwickeln, machte den Nahen Osten immer wichtiger, sowohl als Quelle für Brennstoffimporte als auch für indische Arbeitskräfte und Geldüberweisungen. Saudi-Arabien, Iran und Katar waren wichtige Lieferanten von Kohlenwasserstoffen. Seit dem Ölboom Mitte der 1970er Jahre ist die Zahl der Inder, die in den arabischen Golfstaaten (Saudi-Arabien, Kuwait, Katar, Bahrain, Oman und die Vereinigten Arabischen Emirate) leben und arbeiten, rasch gestiegen. Die meisten kamen aus südlichen Bundesstaaten wie Andhra Pradesh, Tamil Nadu und Kerala, und während einige von ihnen eine Anstellung im Angestelltenbereich fanden, arbeitet die Mehrheit (70 %) in Niedriglohnsektoren mit geringer Qualifikation wie dem Baugewerbe.

Als Reaktion auf die wachsende indische Diaspora richtete die Regierung 2004 das Ministerium für indische Angelegenheiten in Übersee ein. Allein in den arabischen Golfstaaten wurde die Zahl der Inder im Jahr 2012 auf rund 5,7 Millionen geschätzt, die bis 2018 auf 8,5 Millionen ansteigen soll. Viele der dort ansässigen Inder leisteten einen wichtigen Beitrag zu den Finanzen des Landes und trugen einen erheblichen Anteil zu den weltweiten Überweisungen bei, die im Zeitraum 2012-18 von 64 auf 79 Milliarden Dollar stiegen.

Mit der Zeit erkannten indische Politiker und Wirtschaftsführer, dass Länder wie Saudi-Arabien und Katar nicht nur Öl bzw. Gas liefern können; der Reichtum, den sie und die VAE angehäuft hatten, machte sie auch zu potenziellen Quellen für Auslandsinvestitionen. Dieses Interesse könnte durchaus dazu beigetragen haben, dass die damalige Regierung Manmohan Singh zu den arabischen Aufständen im Jahr 2011 relativ still war und sich gegen eine ausländische Intervention aussprach. Als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats enthielt sich Indien bei der Abstimmung über die Verhängung einer Flugverbotszone über Libyen, die es als gegen das Gaddafi-Regime gerichtet ansah. Auch in Bezug auf Syrien zeigte sich die indische Ambivalenz. Als der Aufstand in Syrien in einen Krieg ausartete, suchte die Singh-Regierung weiterhin nach einem Gleichgewicht: Sie stimmte für Sanktionen, lehnte aber auch jegliche Versuche eines Regimewechsels ab.

Modi und die Look-West-Politik

Die groben Parameter der indischen Nahostpolitik standen weitgehend fest, als Modi 2014 gewählt wurde. Anstatt einen anderen Weg einzuschlagen, verfolgte die neue Regierung denselben Kurs, intensivierte aber das, was als „Look West“-Politik bekannt wurde, indem sie sich auf drei Hauptachsen konzentrierte: die arabischen Golfstaaten, Israel und den Iran.

Wie bereits erwähnt, hatten sich die Beziehungen Indiens zu den arabischen Golfstaaten bereits seit den 1970er Jahren verändert und erweitert. Im Gegensatz dazu sind die Beziehungen Indiens zu Israel und Iran jüngeren Datums und entstanden größtenteils in den 1990er Jahren.

Im Falle Israels waren die Beziehungen Indiens historisch gesehen kühl. Während des Kalten Krieges hatte sich Indien öffentlich auf die Seite der arabischen Staaten und des palästinensischen Nationalistenkampfes gestellt. Dabei spielten innenpolitische Erwägungen eine Rolle. Dazu gehörten die Unterstützung der arabischen Staaten – oder zumindest die Abwesenheit von Kritik – für ihre Verwaltung des mehrheitlich muslimischen Jammu und Kaschmir und die Bemühungen, die beträchtliche muslimische Minderheit dort zu beschwichtigen.

Mit der Zeit verloren diese beiden Überlegungen an Bedeutung. Der wachsende arabisch-israelische Dialog in den 1990er Jahren und der Osloer Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern verringerten die zentrale Bedeutung dieses Konflikts in der Region und unter den indischen Muslimen. Darüber hinaus sah sich Indien mit zunehmend kritischen Resolutionen gegen Indiens Herrschaft über Jammu und Kaschmir seitens der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) konfrontiert, der eine Reihe muslimischer arabischer Staaten angehören.

Im Gegensatz dazu zeigte Israel in Kaschmir mehr Sympathie für Indien. Als die USA 1999 wegen der Kargil-Krise mit einem Waffenembargo drohten, sprang Israel ein und wurde zu einem wichtigen Lieferanten für Indien: Zwischen 2000 und 2015 hatte der israelisch-indische Waffenhandel einen Wert von über 2,2 Milliarden Dollar.

Israel zeigte sich auch außerhalb des Waffenhandels attraktiv. Als eine der modernsten und fortschrittlichsten Volkswirtschaften im Nahen Osten bot es potenziell einen größeren Mehrwert für Handel und Investitionen. Im Juli 2017 war Modi der erste indische Premierminister, der nach Israel reiste. Während des Besuchs unterzeichneten Modi und der israelische Premierminister Nenjamin Netanjahu Abkommen über internationale Entwicklung, Landwirtschaft und Weltraumkooperation. Der Besuch hat wohl den Status und den Einfluss der Palästinenser in der indischen Außenpolitik verringert, was durch eine wachsende Annäherung zwischen den arabischen Golfstaaten Ende 2018 noch verstärkt wurde, die sich in der Aufnahme israelischer Staatsoberhäupter durch Oman und die VAE widerspiegelte.

Wie bei Israel enthalten auch die Beziehungen Indiens zum Iran sowohl eine nationale Sicherheits- als auch eine wirtschaftliche Dimension. Die indischen Politiker sehen in den Beziehungen zum Iran nicht nur einen wichtigen Energielieferanten, sondern auch eine Möglichkeit, Indiens Sicherheit in Zentral- und Südasien zu erhöhen, indem Indiens Hauptrivale Pakistan eingedämmt wird und gleichzeitig ein Gegengewicht zur wachsenden regionalen Präsenz Chinas geschaffen wird. Sowohl für den Iran als auch für Indien führt der Weg zur Eindämmung Pakistans über Afghanistan, das zu einem Stützpunkt militanter Gruppen geworden ist, deren Bedrohung über die Grenzen des Landes hinausgeht.

Indien und der Iran vereinbarten 2003 erstmals, beim Ausbau der Handels- und Verkehrsverbindungen durch Zentralasien zusammenzuarbeiten und sie zum iranischen Hafen Chabahar am Indischen Ozean zu leiten. Es sollte jedoch ein weiteres Jahrzehnt dauern, bis die beiden Seiten 2016 eine Einigung mit Afghanistan erzielen konnten.

Der Ausbau des Hafens Chabahar und der dazugehörigen Infrastruktur ist für Indien in zweierlei Hinsicht von Vorteil. Zum einen wird dadurch der Zugang zu Ölimporten aus dem Iran erleichtert. Zum anderen kann er ein Gegengewicht zu den chinesischen Handels- und Entwicklungsprojekten in Zentralasien und im Nahen Osten bilden, die mit der Gürtel- und Straßeninitiative (BRI) verbunden sind. Genauer gesagt bietet Chabahar eine Alternative zu Chinas eigenen Bemühungen, seinen Einfluss in der Region auszuweiten, unter anderem durch seine eigenen Bemühungen, den Hafen von Gwadar auf der pakistanischen Seite der Grenze zu verbessern.

Mögliche Einschränkungen im Zusammenhang mit der „Look West“-Politik

Trotz Modis Bemühungen, die Beziehungen zu den arabischen Golfstaaten, Israel und dem Iran zu pflegen, birgt jeder dieser Staaten potenzielle Herausforderungen und Risiken.

Erstens könnte Israels verbesserter Status in der arabischen Welt nicht von Dauer sein. Eine weitere Intifada oder ein Wiederaufleben der Unterstützung für die Palästinenser durch die breite arabische Öffentlichkeit könnte Druck auf die Golfregime ausüben, ihre derzeitige Annäherung an Israel rückgängig zu machen. Sollte dies geschehen, könnte auch Indien angesichts seiner eigenen wachsenden Nähe zu Israel seine Position gefährdet sehen.

Zweitens ist es unwahrscheinlich, dass Indiens Engagement mit dem Iran wegen Chabahar die Option Pakistan/China ausschließt. Ein Grund dafür ist der bescheidenere Umfang der indischen Bemühungen in Zentralasien und im Nahen Osten, insbesondere im Vergleich zu Chinas Belt and Road. Einigen aktuellen Schätzungen zufolge hat China allein für den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (China-Pakistan Economic Corridor, CPEC) bereits etwa 68 Milliarden Dollar und für alle anderen Projekte bisher rund 200 Milliarden Dollar ausgegeben. Ein weiterer Grund ist, dass die indischen Ambitionen überflüssig werden könnten, vor allem wenn der Iran und Pakistan ihre Differenzen überwinden und zusammenarbeiten und ihre Häfen miteinander verbinden können, wie sie behaupten. Schließlich könnten andere Mächte wie die Vereinigten Staaten die indischen Bemühungen zunichte machen. In der Tat hat sich die indisch-iranische Vereinbarung über Chabahar wiederholt verzögert, unter anderem wegen der US-Sanktionen gegen den Iran. Viele dieser Sanktionen zielten darauf ab, das iranische Atomprogramm zu untergraben, das 2015 eine Wende zu nehmen schien, als die P5+1 (d. h. die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats plus Deutschland) den Gemeinsamen Umfassenden Aktionsplan (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA) unterzeichneten.

Indien begrüßte den JCPOA in der Hoffnung, dass das Abkommen den Weg für mehr Handel und Zusammenarbeit mit dem Iran ebnen würde. Doch im Mai 2018 zogen sich die USA einseitig aus dem JCPOA zurück und verhängten erneut Sanktionen. Als einer der größten Ölabnehmer des Irans war Indien zunächst von den Sanktionen ausgenommen, doch die Ausnahmeregelung lief im Mai 2019 aus. Seitdem ist der Golf unruhiger geworden: In dem Bemühen, andere Unterzeichner des JCPOA unter Druck zu setzen, soll der Iran hinter Angriffen auf mehrere Tanker gesteckt und am 19. Juli ein unter britischer Flagge fahrendes Schiff und seine überwiegend indische Besatzung festgehalten haben.

Inzwischen wurde Indien schließlich konsularischer Zugang zu seinen Staatsangehörigen gewährt. Der Vorfall machte jedoch eine dritte Herausforderung für Indien im Nahen Osten deutlich: die Verwundbarkeit seiner Bürger und wirtschaftlichen Interessen. In den letzten Monaten hat Indien zwei Kriegsschiffe und Überwachungsflugzeuge in den Golf entsandt, um seinen Schiffsverkehr dort zu schützen, und gleichzeitig deutlich gemacht, dass es sich nicht an der von den USA geführten Koalition beteiligen wird, die dort gebildet wird. In der indischen Entscheidung spiegeln sich möglicherweise auch die eigenen Spannungen mit den USA wider, vor allem der wachsende Handelskrieg zwischen den beiden Ländern.

Viertens: Wie der Streit zwischen den USA und dem Iran zeigt, ist Indien anfällig für regionale Konflikte, auf die es kaum Einfluss hat. Am bemerkenswertesten sind vielleicht die saudi-iranische Rivalität und der Boykott Katars durch Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. In beiden Fällen geht es um den Kampf um Einfluss in der Region; Saudi-Arabien und die VAE misstrauen außerdem dem Iran und Katar wegen ihrer Unterstützung islamistischer Gruppen. In ähnlicher Weise verdächtigt Israel den Iran, die Hamas und die Hisbollah gegen das Land zu unterstützen.

Als sich die Katar-Krise Mitte 2017 zuletzt manifestierte, stand Indien unter Druck, Partei zu ergreifen. Stattdessen widersetzte es sich und nahm Neutralität an, um die wirtschaftlichen Beziehungen zu beiden Seiten aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig befürchteten einige mögliche Vergeltungsmaßnahmen gegen seine Bürger, die glücklicherweise nicht eintraten.

Ausblick

Das Ausbleiben eines negativen Ergebnisses in der Katar-Krise spiegelt wohl die umfassenderen Erfahrungen Indiens im Nahen Osten unter den aufeinanderfolgenden indischen Regierungen und Modis bisheriger Look-West-Politik wider. Politisch hat sich Delhi bedeckt gehalten, ob es nun um die arabischen Aufstände oder das iranische Atomprogramm und das JCPOA ging, während es versucht hat, seine wirtschaftlichen Möglichkeiten zu erweitern und zu maximieren.

Bislang scheint Indiens „Look West“-Politik zu funktionieren. Aber wie lange noch, ist nicht sicher. Indiens derzeitiger Ansatz wurde durch den größeren strukturellen Kontext begünstigt, in dem sich die Region befindet. Während Indiens Einfluss im Nahen Osten während des Kalten Krieges und in den 1990er Jahren, als die Vereinigten Staaten die wichtigste Macht in der Region waren, geringer war, ist die Situation heute komplexer. Die USA sind zwar nicht abwesend, aber ihr Einfluss ist relativ bescheidener und konkurriert mit anderen Mächten wie China und Russland, letzteres nach seiner Intervention im syrischen Bürgerkrieg.

Der Nahe Osten ist multipolarer geworden, und die Macht verteilt sich auf eine Vielzahl regionaler und außerregionaler Akteure. In dieser Gemengelage hat Indien einen Ansatz verfolgt, der ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Parteien und ihren Rivalitäten herstellt. Doch sobald die Macht nicht mehr so unterschiedlich ist und sich zu konzentrieren beginnt, könnte sich der Spielraum für ein solches Vorgehen verengen, und das derzeitige Zeitfenster könnte sich durchaus schließen.

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