Alice Flaherty war schon immer eine produktive Autorin. Die Notizen, die sie während ihrer Facharztausbildung im Krankenhaus machte, waren so umfangreich, dass sie zu einem Lehrbuch der Neurologie verarbeitet wurden. Doch 1998, nach dem Tod ihrer zu früh geborenen Zwillingssöhne, nahm ihre Gewohnheit einen neuen Höhepunkt an. Flahertys Familie und Freunde hatten sich auf einen Abstieg in die Depression eingestellt. Stattdessen erlebten sie einen Ausbruch von Kreativität, der so intensiv war, als hätte sich eine Muse in ihrem Kopf eingenistet.
„Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt“, sagt Flaherty. „Alles schien so wichtig zu sein, dass ich alles aufschreiben und aufbewahren musste.“ Sie begann, mitten in der Nacht aufzuwachen, um verirrte Gedanken auf Post-its zu kritzeln. Bald schon kritzelte sie sich Notizen auf den Arm, während sie im Stau stand. Flaherty, ein Neurologe am Massachusetts General Hospital, diagnostizierte schließlich bei sich selbst Hypergraphie – den überwältigenden Zwang zu schreiben.
Geschichten über Schriftsteller, die von der Muse auf Steroiden besessen sind, gehen auf den römischen Dichter Juvenal aus dem ersten Jahrhundert zurück, der über „die unheilbare Schreibkrankheit“ schrieb. Aber erst im 20. Jahrhundert erforschten Wissenschaftler die Gehirnchemie, die hinter dieser Lust an der Sprache steckt. In den 1970er Jahren entdeckten Neurologen, dass Hypergraphie häufig durch Schläfenlappenepilepsie ausgelöst wird. Später brachten Wissenschaftler sie mit bipolaren Störungen in Verbindung. Inzwischen gibt es Hinweise darauf, dass bei Hypergraphie eine abnorme Interaktion zwischen dem Schläfen- und dem Frontallappen des Gehirns vorliegt. Die Aktivität im Schläfenlappen ist vermindert, was die Aktivität im Frontallappen anregt, dem Bereich, der komplexes Verhalten wie z. B. Sprache fördert. Der innere Kritiker eines Schriftstellers verstummt, und die Ideen fließen. Was dabei herauskommt, ist vielleicht nicht brillant oder gar sinnvoll, aber es bietet Futter für künftige Überarbeitungen.
Obwohl Antidepressiva den Redefluss bei Hypergraphen nachweislich stoppen, ist der Zustand so selten, dass es keine anerkannten Behandlungsrichtlinien gibt. Glücklicherweise betrachten die meisten Hypergraphen die Hypergraphie als ein Geschenk, sagt Flaherty, der nach der Veröffentlichung seines Buches „Die Mitternachtskrankheit“ im Jahr 2004 von hypergraphischen Patienten überschwemmt wurde. „Hypergraphie ist abnormal, aber nicht unbedingt schlecht“, sagt sie. „Für uns ist es meistens angenehm. Man leidet nur, wenn man denkt, dass man schlecht schreibt.“
Fallstudie: David Welch aus Falls Church, Virginia
- Frühe Anzeichen: Im Alter von 10 Jahren wurde ihm klar, dass sein Schreibzwang ungewöhnlich war, als er im Guinness-Buch der Rekorde von einem Mann las, der 67 Jahre lang täglich ein Tagebuch geführt hatte, und sofort dachte: „Das kann ich schlagen.“
- Die Arbeit eines Tages: Er verbringt mindestens drei Stunden damit, die Aktivitäten eines jeden Tages in 15-Minuten-Schritten aufzuzeichnen. In den letzten 25 Jahren hat er nur sechs Tage verpasst.
- Warum er sich glücklich schätzt: „Es gibt jeden Tag etwas von den Menschen zu lernen“, sagt Welch. „Das Schreiben hilft mir, diese Lektionen nicht zu verpassen.“
- Über sein Vermächtnis: In zweihundert Jahren, so glaubt Welch, könnten Historiker eine detaillierte Aufzeichnung des Lebens eines Mannes nützlich finden, deshalb plant er, seine Tagebücher der Library of Congress zu vermachen.
- Blog: 38lemon.com/dailyjournal.php
Berühmte Hypergraphien
- Danielle Steel
- Edgar Allan Poe
- Fyodor Dostojewski
- Sylvia Plath
- Joyce Carol Oates
- Stephen King
- Isaac Asimov